Ein Grosi für Lena

    In der letzten Ausgabe berichtete die Hebamme von der jungen Mutter, die ihr regelmässig Videos ihrer kleinen Tochter schickte. Das Kind hat nämlich keine Grossmutter, mit der sich die Freuden teilen lassen. Hier kommt die glückliche Wendung der Geschichte.

    Daniela filmt ihre zweijährige Tochter Lena, wie sie der älteren Dame zusieht, die am flachen Ufer die Enten füttert. Leise sprechend lässt die Dame klein zugeschnittene Brötchen fallen. Als sie Lena neben sich auftauchen sieht, erhellt sich ihr Gesicht, und sie spricht sie an. Lena schaut zu ihr auf und antwortet. Man versteht nicht, was die beiden miteinander sprechen, doch sie scheinen sich auf Anhieb zu mögen. Bald verfüttert auch Lena ein paar Bröckchen. Daniela filmt weiter. Immer wieder lächeln sich die beiden zu, Lena sucht den Blickkontakt, und die Dame erwidert ihn. Zwischen den beiden ist eine Vertrautheit spürbar. Als eine der Enten Lena ein Stück Brot aus der Hand reisst und sie dabei beisst, erschrickt Lena sehr, zieht die Hand ruckartig zurück. Die Entengruppe reagiert mit lautem Geschnatter. Die Kamera wackelt – auch Daniela ist erschrocken. Man hört sie Luft holen, als wolle sie ihrer Tochter etwas zurufen. Doch sie stockt. Als Lena unsicher zur Dame hochschaut, findet sie einen sicheren, mitfühlenden Blick, und Lenas Schultern senken sich, aus ihrem Gesicht verschwinden Angst und Schmerz.

    Die Ruhe der Dame wirkt sich auf alle aus – Lena, Daniela, die Enten, selbst auf mich, eine Zuschauerin, die die Szene Stunden später per Video zu sehen bekommt. An dieser Stelle bricht der Film ab. Als Lena danach tagelang vom «Grosi» spricht, Brotstückchen abbricht, diese an ihre Plüschtiere auf dem Bett verteilt, macht das Daniela nachdenklich. «Ich lag die ganze Nacht wach und überlegte mir, wie ich die Frau finden könnte. Ich sah mich schon tagelang mit Lena Enten füttern … Und was würde ich Lena sagen, wenn sie nie mehr auftaucht?», schreibt sie mir. Auch aus Danielas Nachricht spürte ich ihre Hoffnung und Sehnsucht. Die beiden brauchen nicht nur ein Grosi, sondern auch eine Mutter. Daniela hat niemanden ausser mir, ihrer ehemaligen Hebamme, und einer Beiständin. Zum Glück müssen sie nicht lange warten. Margrith, so heisst die ältere Dame, kommt zwei Tage später wieder und freut sich ebenso, die beiden wiederzusehen, wie Lena und Daniela. Margrith ist seit längerem Witwe. Kinder konnten ihr Mann und sie nie haben. «Es sollte nicht sein. Aber wir hatten es auch zu zweit schön. Wir sind viel und weit gereist, und ich hatte nie das Gefühl, dass mir etwas fehlt. Aber seit Hans nicht mehr da ist, ist es schon leer …» sagt Margrith zu Daniela.

    Daniela sucht nun eine Wohnung in der Nachbarschaft von Margrith, denn sie sehen sich mittlerweile mehrmals pro Woche. Seither erhalte ich nur noch ab und zu Bilder und Videos von Daniela. Highlights. Lena und Margrith im Zoo, Margriths 75. Geburtstag, und letzthin vom gemeinsamen Weihnachtsgüezibacken und Tannenbaumschmücken.