Salutogenese und Kohärenzgefühl

Warum bleiben Menschen – trotz vieler potentiell gesundheitsgefährdender Einflüsse – gesund? Wie schaffen sie es, sich von Erkrankungen wieder zu erholen? Was ist das Besondere an Menschen, die trotz extremster Belastungen nicht krank werden? Diese Fragen stellte sich der israelisch-amerikanische Medizinsoziologe Aaron Antonovsky (1923–1994) anfangs der 1970er Jahre und wurden zum Ausgangspunkt seiner theoretischen und empirischen Forschung. Antonovsky prägte für diese neue Blickrichtung den Begriff „Salutogenese“ (Salus, lat.: Unverletztheit, Heil, Glück; Genese, griech.: Entstehung), um den Gegensatz zur „Pathogenese“ des biochemischen Ansatzes und des derzeitigen Krankheitsmodells, aber auch des Risikofaktorenmodells hervorzuheben (Bengel 2001:24).

Aaron Antonovsky wertete 1970 eine Erhebung über die Adaptation von Frauen verschiedener ethnischer Gruppen an die Menopause aus. Eine Gruppe war 1939 zwischen 16 und 25 Jahre alt und hatte sich zu dieser Zeit in einem nationalsozialistischen Konzentrationslager befunden. Ihr psychischer und körperlicher Gesundheitszustand wurde mit der einer Kontrollgruppe verglichen. Der Anteil der in ihrer Gesundheit nicht beeinträchtigten Frauen betrug in der Kontrollgruppe 51 % im Vergleich zu 29 % der KZ-Überlebenden. Nicht der Unterschied an sich, sondern die Tatsache, dass in der Gruppe der KZ-Überlebenden 29 % der Frauen trotz der unvorstellbaren Qualen eines Lagerlebens und späterem Flüchtlingsdasein als (körperlich und psychisch) ‚gesund’ beurteilt wurden, war für ihn ein unerwartetes Ergebnis. „Dies war für mich die dramatische Erfahrung, die mich bewusst auf den Weg brachte, das zu formulieren, was ich später als das salutogenetische Modell bezeichnet habe […]“ (Antonovsky 1997:15).

Antonovsky bezeichnet die Pathogenese, das ursprüngliche Modell der Medizinforschung, als eine Orientierung, die versucht zu erklären, warum Menschen krank werden und warum sie unter eine gegebene Krankheitskategorie fallen. „Eine salutogenetische Orientierung, die sich auf die Ursprünge der Gesundheit konzentriert, stellt eine radikal andere Frage: Warum befinden sich Menschen auf der positiven Seite des Gesundheits-Krankheits-Kontinuums oder warum bewegen sie sich auf den positiven Pol zu, unabhängig von ihrer aktuellen Position?“ (Antonovsky 1997:15).

Diese radikal andere Frage nach dem Ursprung von Gesundheit anstelle von Krankheit, wurde ein Wendepunkt in der Geschichte der Gesundheitsforschung (Lindström/Eriksson 2010).

Das Kohärenzgefühl / Sence of Coherence (SOC)

Für die Beantwortung der salutogenetischen Frage, wie Gesundheit erklärt werden kann, suchte Antonovsky die Hauptdeterminante dafür, auf welcher Position sich jeder Mensch auf dem Gesundheits-Krankheits-Kontinuum befindet und wie er sich in Richtung gesunden Pol bewegt (Antonovsky 1997:22). Diese Hauptdeterminante ist gemäss Antonovsky das „Kohärenzgefühl“ oder „Sense of Coherence“ (SOC) (Antonovsky 1997:34ff). „Das SOC (Kohärenzgefühl) ist eine globale Orientierung, die ausdrückt, in welchem Ausmaß man ein durchdringendes, andauerndes und dennoch dynamisches Gefühl des Vertrauens hat, dass

  • die Stimuli, die sich im Verlauf des Lebens aus der inneren und äußeren Umgebung ergeben, strukturiert, vorhersehbar und erklärbar sind;
  • einem die Ressourcen zur Verfügung stehen, um den Anforderungen, die diese Stimuli stellen, zu begegnen;
  • diese Anforderungen Herausforderungen sind, die Anstrengung und Engagement lohnen.“ (Antonovsky 1997:36)

Die drei Komponenten des Kohärenzgefühls

Antonovsky definiert drei Komponenten des SOC: Verstehbarkeit (Comprehensibility), Handhabbarkeit (Manageability) und Bedeutsamkeit (Meaningfulness), welche sich gegenseitig beeinflussen. Bei der Erforschung der Beziehung zwischen den drei Komponenten wurde die Bedeutsamkeit als wichtigste Komponente identifiziert (Antonovsky 1997:37). Die drei Komponenten Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Bedeutsamkeit werden von Antonovsky wie folgt näher beschrieben: Verstehbarkeit (Antonovsky 1997:34f)

  • Die Person mit einem hohen Ausmass an Verstehbarkeit geht davon aus, dass Stimuli, denen sie in Zukunft begegnet, vorhersehbar, eingeordnet und erklärt werden können.
  • Eine solide Fähigkeit, die Realität zu beurteilen.
  • Ausmass, in welchem man interne und externe Stimuli als kognitiv sinnhaft wahrnimmt, als geordnete, konsistente, strukturierte und klare Information und nicht als Rauschen – chaotisch, ungeordnet, willkürlich, zufällig und unerklärlich.

Handhabbarkeit (Antonovsky 1997:35)

  • Das Ausmass, in dem man wahrnimmt, dass man eigene Ressourcen zur Verfügung hat, um den Anforderungen zu begegnen, die von den Stimuli, mit denen man konfrontiert wird, ausgehen.
  • „Zur Verfügung“ stehen Ressourcen, die man selbst unter Kontrolle hat oder solche, die von legitimierten anderen kontrolliert werden – vom Ehepartner, von Freunden, Kollegen, Gott, der Geschichte, vom Parteiführer oder einem Arzt – von jemandem, auf den man zählen kann, jemandem, dem man vertraut.
  • Wissen, wenn „bedauerliche Dinge“ geschehen, wird man mit ihnen umgehen können.

Bedeutsamkeit / Sinnhaftigkeit (Antonovsky 1997:35)

  • Ausmass, in dem das Leben emotional als sinnvoll empfunden wird, dass wenigstens einige der vom Leben gestellten Probleme und Anforderungen es wert sind, Energie in sie zu investieren.
  • Ereignisse, welche der Person wichtig sind, ihr am Herzen liegen und „Sinn machen“, werden tendenziell als Herausforderung und als wichtig genug angesehen, emotional in sie zu investieren und sich zu engagieren.
  • Als Teilnehmer in die Prozesse, die das eigene Schicksal und die alltägliche Erfahrung bilden, involviert sein.

Entstehung des Kohärenzgefühls

Antonovsky erläutert die Entstehung der einzelnen SOC-Komponenten für das Säuglingsalter und die Kindheit, die Adoleszenz sowie das frühe und späte Erwachsenenalter (Antonovsky 1997:95ff). Dabei werden die Erfahrungen aufgeführt, nach welchen laut Antonovsky das SOC gestärkt wird.

Säuglingsalter / Kindheit

Verstehbarkeit: Lebenserfahrungen von Beziehung, Stabilität, Konsistenz, Kontinuität, Belastungsbalance und Partizipation in Bezug auf primäre und sekundäre Bedürfnisse Handhabbarkeit: Ausgeglichenes Muster von Reaktionen der Betreuungspersonen auf Bedürfnisse des Kindes von innen Bedeutsamkeit: Teilnahme an Entscheidungsprozessen in soziale anerkannten Aktivitäten, positive Antworten auf die Aktivitäten des Kindes „Je ausgeprägter das SOC der Eltern, desto wahrscheinlicher ist, dass sie die Lebenserfahrungen des Kindes so beeinflussen, dass dieses in dieselbe Richtung geführt wird. […] In den meisten Gesellschaften hat der Säugling eine zentrale Pflegeperson, die ihm die Erfahrungen vermittelt, aus denen sich das SOC dann auszubilden beginnt, wenngleich andere Figuren im Hintergrund involviert sein mögen“ (Antonovsky 1997:99).

Adoleszenz

Verstehbarkeit: Lebenserfahrungen von Beziehung, Stabilität, Konsistenz, Kontinuität, Belastungsbalance und Partizipation Eine umschriebene Persönlichkeit innerhalb einer sozialen Realität werden, die man versteht. Handhabbarkeit: Gefordert werden, aber nicht überfordert Bedeutsamkeit: Erfahrung, dass der Weg, die Erfahrungen zu meistern, eine erfolgreiche Variante des Weges ist, mit dem die anderen Menschen um ihn herum ihre Erfahrungen meistern und solches Können anerkennen.

Erwachsenenalter

Verstehbarkeit: Klarheit über die eigene Rolle Klarheit und Vertrautheit mit den Rollen der anderen im Kontext sowie ihrer Verbindung zu der eigenen (Frau, Kind, Mann, Familie, Kirchgemeinde, Vereine) Erfahrung von Konsistenz im Leben, bei der Arbeit, im sozialen Umfeld Kennen der grösseren Zusammenhänge und übergeordneten Zielen der Familie, des Arbeitgebers, der Regierung etc. Überkomplexität und Chaos darf dann sein, wenn man weiss, wo sein Platz ist, dies einem grösseren Rahmen dient und dieser verstehbar ist Handhabbarkeit: Verfügbarkeit von Ressourcen wie Erfahrungen, Wissen, Fertigkeiten, Familie, Gemeinde, Kirche Erfahrung einer angemessenen Belastungsbalance (keine Unter- oder Überbelastung, keine Unter- oder Überforderung) Lohn oder Wertschätzung von unbezahlter Arbeit Sicherheit betreffend der politischen Situation Arbeitsplatzsicherheit Bedeutsamkeit: Bedeutsamkeit des Lebens für sich selbst, der Familie und ihr soziales Umfeld Soziale Bewertung des Berufsstandes oder der Lebenssituation, Prestige Soziale Bewertung der Familie Formale soziale Struktur, welche die Ressourcen zur Verfügung stellt Informelle Strukturen wie Freunde, Gemeinde: sich als Teil eines Ganzen fühlen Macht und Machtverteilung, Mitbestimmungs- und Mitspracherecht, Teilnahme an sozial geschätzten Entscheidungsprozessen

Dynamik des Kohärenzgefühls

Antonovsky ging davon aus, dass man etwa gegen Ende der ersten Dekade des Erwachsenenalters, also etwa mit 30 Jahren, eine bestimmte Position auf dem SOC-Kontinuum erreicht hat, und sich diese nicht mehr verändert (Antonovsky 1997:114). Laut Lindström/Eriksson konnte jedoch in zahlreichen späteren Studien gezeigt werden, dass das SOC mit zunehmendem Alter und Lebenserfahrung stärker wird (Lindström/Eriksson 2010:36).

Die Messung des Kohärenzgefühls

Um das Kohärenzgefühl zu messen, entwickelte Antonovsky den sogenannten „SOC Fragebogen“. Der 1983 veröffentlichte Fragebogen enthält 29 Einheiten (Items), welche die drei Dimensionen des SOC abbilden: Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Bedeutsamkeit. Er besteht aus 11 Items zur Verstehbarkeit, 10 Items zur Handhabbarkeit und 8 Items zur Bedeutsamkeit, wobei sich eine theoretische Bandbreite von 29-203 Punkten für den SOC-29 Fragebogen ergibt (Antonovsky 1997:84). 1987 wurde von Antonovsky eine kürzere Form des Fragebogens veröffentlicht, der SOC-13-Fragebogen. Die meisten Studien verwenden die beiden Originalfragebogen, jedoch fanden Eriksson und Lindström bis 2003 mindestens 15 modifizierte Versionen von 3 bis 28 Items (Eriksson/Lindström 2003 in Lindström/Eriksson 2010:21). Die Frage der Operationalisierung des SOC und damit der Validität eines Fragebogens, welcher eine „globale Orientierung“ messbar machen soll, beantwortet Antonovsky ausführlich (Antonovsky 1997:79). Zahlreiche Forscher überprüften und modifizierten den SOC-29 Fragebogen (Antonovsky 1997:83), weitere Fragebogen wurden aus Antonovskys Originalfragebogen weiterentwickelt, so z.B. der „Salutogenic Health Indicator Scale“ (SHIS) von Bringsén, Andersson et al 2009 oder den „Salutogenic Wellness Promotion Scale“ (SWPS) von Becker, Dolbier et al 2008 (Lindström/Eriksson 2010:22). Wird das SOC selbst beschrieben, werden Adjektive wie „stark“, „schwach“ oder „rigid“ verwendet. Die Adjektive „hoch“ und „niedrig“ beziehen sich auf den SOC-Level oder SOC Score, welcher mit einem Fragebogen ermittelt wurde. Ein hoher SOC-Level bedeutet ein starkes Kohärenzgefühl, ein niedriger SOC-Level ein schwaches Kohärenzgefühl. Das „rigide“ Kohärenzgefühl bezeichnet ein „nicht-authentisches“ Kohärenzgefühl. Etwa 4-5% der Befragten geben bei jedem Item des Fragebogens eine hohe „SOC-Antwort“, wodurch Antonovsky zu unterscheiden begann zwischen dem „Gefühl des Selbst“ und dem „Gefühl der Identität“. „Es wird zu jedem gegebenen Zeitpunkt Menschen geben, die darauf bestehen, dass gerade alles verstehbar, handhabbar und bedeutsam ist“ (Antonovsky 1997:40f)

Quellenangaben

Die in den vorangegangenen Texten verwendeten Quellen sind folgende:

  • Abrahamsson, A./ Ejlertsson, G. (2002). A salutogenic perspective could be of practical relevance for the prevention of smoking amongst pregnant women. In: Midwifery, 18/2002, 323-331.
  • Antonovsky, A./ Franke, A. (1997). Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit. Tübingen: dgvt-Verlag
  • Bengel, J. (2001). Was erhält Menschen gesund?: Antonovsky Modell der Salutogenese – Diskussionsstand und Stellenwert; eine Expertise von Jürgen Bengel, Regine Strittmacher und Verlag Hildegard Willmann. In: Forschung und Praxis der Gesundheitsförderung, 6/2001. Köln: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung BZgA
  • Engelhard, I.M. / van den Hout, M.A./ Vlaeyen, J.W.S. (2003). The sense of coherence in early pregnancy and crisis support and posttraumatic stress after pregnancy loss: a prospective study. In: Behavioral Medicine, 29/2003, 80-84.
  • Eriksson, M. (2007). Unravelling the Mystery of Salutogenesis: The Evidence Base of the Salutogenic Research as Measured by Antonovsky’s Sense of Coherence Scale. Helsinki: Folkhälsan Research Centre
  • Eriksson, M./ Lindström, B. (2006). Antonovsky’s Sense of Coherence Scale and it’s relation with health: a systematic review. In: Journal of epidemiology and community health, 60/2006, 376-381
  • Eriksson, M./ Lindström, B. (2007). Antonovsky’s Sense of Coherence Scale and it’s relation with quality of life: a systematic review. In: Journal of epidemiology and community health, 61/2007, 938-944
  • Habroe, M./ Schmidt, L./ Evald Holstein, B. (2007). Does childbirth after fertility treatment influence sense of coherence? A longitudinal study of 1,934 men and women. In: Acta Obstetricia et Gynecologica Scandinavica, 86/2007, 1215-1221
  • Hellmers, C./ Schuecking, B. (2008). Primiparae’s well-being before and after birth and relationship with preferred and actual mode of birth in Germany and the USA. In: Journal of Reproductive and Infant Psychology, 26/2008, 4, 351–372
  • Lindström, B. (2012). Ein gesunder Start ins Leben: Salutogenese und Gesundheit rund um Geburt und frühe Mutterschaft. Skript und Powerpoint Präsentation zur Fachtagung der Hochschule Luzern vom 26.04.2012
  • Lindström, B./ Eriksson, M. (2010). The Hitchhiker’s Guide to Salutogenesis. Salutogenic pathways to health promotion. Research Report 2/2010. Helsinki: Folkhälsan Research Center, Health Promotion Research
  • Luyben GA. / Fleming V. (2005) Women’s needs from antenatal care in three European countries. Midwifery 21:212-223.
  • Oz, Y./ Sarid, O./ Peleg, R./ Sheiner, E. (2009). Sense of coherence predicts uncomplicated delivery: a prospective observational study. In: Journal of Psychosomatic Obstetrics & Gynecology, 30/2009, 29-33.
  • Sjöström, H./ Langius‐Eklöf, A./ Hjertberg, R. (2004). Well‐being and sense of coherence during pregnancy. Acta Obstetricia et Gynecologica Scandinavica, 83, 1112-1118.

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