«Das Wasser ist wäääh»

    Hebamme Carole Lüscher nimmt uns in ihrer ersten Kolumne mit zu einer Hausgeburt, bei der es unverhoffte Zuschauer gab.

    Das Baby ist soeben geboren! Hallo, ich bin Carole, die Hebamme». Das sind meine ersten Worte zu Erika, als ich ihr die Türe öffne. Erika kommt 10 Minuten nach der Geburt ihres Enkels Leo an.

    «Oh je, ich dachte, ich hätte noch viel Zeit!», lacht sie. Nachdem sie am frühen Morgen von ihrem Schwiegersohn geweckt worden war, machte sie sich mit dem ersten Tram auf den Weg zum Wohnort ihrer Tochter. Jetzt, zwei Stunden nach dem Anruf, ist sie zu spät, und die beiden älteren Enkel, Elena und Fynn, waren während der Geburt nicht wie vereinbart mit ihrem Grosi im Nebenzimmer, sondern standen am Rand des Pools und beobachteten die Geburt ihres Bruders.

    Oben an der Treppe wird Grosi von Elena herzlich begrüsst: «Grosi, das Bébé ist da!» Grosi nimmt die Vierjährige in die Arme und hört ihrer aufgeregten Enkelin zu. «Komm, schau, da ist noch die Schnur dran. Und das Wasser ist wäääh!». Erika lässt sich von Elena zum Zimmer führen, in dem ihre Tochter Anna im Gebärpool sitzt, das Neugeborene im Arm. Unter der Käseschmiere erkennt man die rosige Haut. Das Baby blickt mit dunklen Augen aufmerksam ins Gesicht seiner Mutter. Der Vater und Fynn schauen ihr über die Schulter. Alle sind still, flüstern, strahlen. Finger werden gezählt, die Füsse genau studiert, das Gewicht geschätzt. Kerzen brennen, durch die Jalousien fallen die ersten Sonnenstrahlen dieses warmen Junimorgens.

    Es riecht nach Geburt, diesem ganz speziellen Duft, bestehend aus Glückshormonen, Fruchtwasser, Latexhandschuhen, Körperflüssigkeiten, Massageöl, Kerzenduft. Heute kommt noch der Duft des Gewitters dazu, das bei den heftigen Schlusswehen über dem Haus niederging. Erika bleibt im Türrahmen stehen. «Mama, das ist Leo. Es ging alles so schnell!» Anna winkt ihre Mutter heran. Erika scheint überwältigt von diesem besonderen Moment. Eine Zeitlang sitzen wir alle still oder leise flüsternd um den Pool. Ich taste von Zeit zu Zeit die Nabelschnur und beobachte, wie sich Leo immer mehr von seiner Mama löst und gleichzeitig ein Teil der Familie wird. Die Nabelschnur pulsiert nun nicht mehr und wird weiss, ein Zeichen, dass sich die Plazenta bald lösen wird.

    Leo findet die Brust, und die Antwort der Gebärmutter kommt prompt. Die ersten Nachwehen rollen heran, Anna muss wieder zu atmen beginnen. «Ist die Gebärmutter schon draussen?», fragt Erika. Ihre Tochter lacht, obwohl sie Schmerzen hat. «Hoffentlich nicht, Mama!» Nun lachen alle. «Du meinst den Mutterkuchen!» «Ach ja, herrje …», sagt Erika, «das bekam ich bei meinen Geburten gar nicht mit.» Elena möchte die Plazenta nicht sehen, das hat sie vor der Geburt klar deklariert. Mit ihrer Mama hatte sie die Bilder ihrer eigenen Hausgeburt angeschaut. Die Plazenta fand sie «grusig». Ihr älterer Bruder war eher fasziniert. Er hatte genau wissen wollen, wie es sein kann, dass das Baby im Bauch von den Kartoffeln, welche die Mutter isst, nicht erschlagen wird. Grosi geht darum mit den Kindern aus dem Zimmer. Später schaut Elena doch zu, als wir die Plazenta untersuchen. Und Erika sieht zum ersten Mal einen Mutterkuchen, obwohl sie selbst vier Kinder geboren hat.